2. Ökumenischer Kirchentag
"Jesus Christus unser Eckstein"
17.September 2006
Jesus Christus - unser Eckstein
Eph 2, 19 – 20
Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater dem Herrn Jesus Christus, Amen
Liebe Gemeinde, liebe Gäste, den Umgang mit Steinen habe ich
von Michelangelo gelernt. Von ihm wird berichtet, dass er, wenn er
einen Auftrag für eine Skulptur erhalten hatte, sehr lange und
sorgfältig nach einem passenden Stein dafür suchte. Dabei
suchte er nicht mit einem Maßband und einer Farbtabelle, die
er sich vorher zurecht gelegt hätte, sondern – mit offenem
Herzen. Er ging durch die Steinbrüche und lauschte, ob da ein
Stein wäre, der ihn ruft, sich ihm offenbart als der Gesuchte.
Hatte er ihn gefunden, begann er keineswegs sofort den Meißel
anzusetzen und dem Stein die Form zu geben, die er, Michelangelo, sich
zuvor ausgedacht hätte. Sondern er setzte oder stellte sich hin,
tastete mit geschlossenen Augen und hörenden Händen das „Fleisch
des Steines“ (so nannte er es) ab, um zu erspüren, welche
Gestalt sich in dem noch fast unbearbeiteten Stein verbergen könnte.
Erst wenn er sie mit seinen Händen und seinem ganzen Leib ertastet
und erfühlt hatte, dann begann er, den Stein zu bearbeiten – so,
als wolle er die in dem Stein wohnende, ja gefangene Gestalt befreien.
Er arbeitete in dieser Phase wie ein Getriebener, ja er war dann ein
Getriebener. Getrieben, von der Vorstellung, dass er das Leben, das
da im Stein wohnt, so schnell wie möglich erretten müsste,
damit es nicht erstickt in seiner ungeborenen Form. Deshalb hat er
in kürzester Zeit so große Werke geschaffen – er hat
sie einfach gerettet aus ihrem noch Ungewordensein.
An ihn also habe ich mich erinnert, als ich das Thema des 2. Ökumenischen
Kirchentages in Brühl erfuhr. Jesus Christus – unser Eckstein.
Ich gebe zu, das wäre nicht die erste Metapher, die mir zu dem
menschgewordenen Gottessohn einfiele - auch wenn sie aus vielen biblischen
Bezügen vertraut ist. Zu starr erschien sie mir aufs erste Hören
hin. Was ist schon ein Eckstein? Ja, sicher er trägt ein Haus,
aber eben nur an einer Ecke. Man braucht vier davon, um mit den aufruhenden
Wänden einen Raum zu umschließen. Und überhaupt – ein
Eckstein ist fast unsichtbar, er ist in der Regel nicht sonderlich
geschmückt, schlimmstenfalls eine Stolperfalle, wenn man nicht
aufpasst oder wenn er unsauber verarbeitet ist. Vor allem aber ist
ein Stein hart, kalt, kantig – so gar nicht das, was ich mit
Jesus Christus verbinde.
So dachte ich, bis mir, ich sagte es schon, Michelangelo einfiel.
Also setzte ich mich wie er vor diesen Eckstein meiner Vorstellung,
der etwa dem Original in Jerusalem entspricht. Dort kann man diesen
Eckstein noch sehen, von dem zuerst der Prophet Jesaja sprach. Einen
auserwählten Stein, der die Tempelmauer tragen sollte, dann aber
schadhaft wurde und einfach weggeworfen wurde. Was muss das für
ein Schmerz für die gewesen sein, die ihn so mühevoll bearbeitet
hatten! Ein großer steingoldener Quader, nahezu fertig geformt,
und plötzlich geborsten, ein schmerzhafter Riss zieht sich hindurch,
der ihn für seinen ursprünglichen Verwendungszweck unbrauchbar
machte.
Jesus Christus, unser Eckstein?
Zu diesem Stein also setzte ich mich und begann ihn zu belauschen,
ihn in meiner Vorstellung abzutasten, ob er denn wirklich so hart und
leblos wäre, wie ich befürchtete.
Ganz still war es um uns, vor mir dieser große Block, hart, kantig,
undurchlässig. Unter meinen Händen aber wurde der Stein warm.
Ich stellte mir vor, wie er in Jahrhunderttausenden gewachsen war,
irgendwo tief verborgen gewoben im Schoß der Erde, entborgen
aus dem ersten Schöpfungsgeheimnis im Anfang (lesen: Hiob 38,
4-7).
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde – aus sich selbst. Ich lauschte
weiter, und der Stein unter meinen Händen begann zu atmen. Welche
seltsame Sicht der Dinge zu glauben, dass nur wir Menschen, bestenfalls
die Tiere und Menschen atmen? Ist nicht alles durchwebt mit dem Geist
und dem Schöpfungsatem Gottes? Bevor Du warst, bin ich – Schöpferkraft
Gottes.
So klingt es fast unhörbar herüber aus der Mitte des Steines.
Jesus Christus, unser Eckstein.
Heiß brennt die Sonne im Kidrontal vor den Mauern Jerusalems.
Vom Ölberg kommend, sieht man bis heute die hohe, majestätische
Mauer des herodianischen Tempels, für die dieser Eckstein bestimmt
war, gewachsen im Inneren der Erde. Wie sehr haben sich Menschen um
ihn bemüht. Wie kraftvoll und behutsam haben sie ihn herbeigeschafft,
wie unendlich lang waren die Stunden, in der ein oder mehrere Bauarbeiter
ihn in eine verwendbare, quadratische Form gebracht hatten. Und dann,
vielleicht nur der eine falsche Schlag – und das scheinbar so
starke und unzerstörbare Gestein brach entzwei, ein tiefer Riss
geht durch das Fleisch, er kann nicht mehr tragen und nicht mehr eingefügt
werden in den Plan der Menschen. Er kann nur noch weggeworfen werden,
die ganze wochenlange Arbeit umsonst.
Jesus Christus, unser Eckstein?
Wie mag es dem Steinmetz ergangen sein, der ihn so entschlossen bearbeitet
hat und dann erleben muss, wie ihm sein Werk unter den Händen
zerbricht? Was für ein erschreckender Gedanke. Mein Lebenswerk,
mein mühsames und hingebungsvoll verwirklichtes Projekt, die vermeintliche
Verkörperung meines Lebenssinns – plötzlich zerstört
durch einen Schlag, einen Schicksalsschlag, Krankheit, Unfall, vielleicht
eine kleine Unachtsamkeit nur für einen Augenblick. Mein Selbstbild,
mein Gottesbild, meine vermeintlich unzerstörbare Vorstellung
des Gottessohnes, geformt mit Mühe und Kraft, um es einzufügen
in mein je größeres Weltbild – zerbricht mir unter
den Händen, zerreißt mir das Herz, entzieht sich meiner
weiteren Verwendung. Ich versuche noch zu retten, was zu retten ist,
montiere vielleicht noch eine Stahlklammer um den Steinbruch, um den
Wortbruch, um den Lebensbruch – und muss feststellen, dass es
nichts hilft, dass ein ganzes Gebäude zerbricht, weil ich diesen
Eckstein nicht nach meinem Bilde formen konnte.
So erzählt es der Stein, vor dem ich noch immer schweigend und lauschend sitze. Und ich ahne, welche Tragödie sich da abgespielt hat vor tausenden von Jahren. Und ich ahne, welche Schmerzen jede und jeder erleidet, die/der erleben muss, dass der Plan nicht aufgeht, das Lebenskonzept gestört wird, der Glaube zerbricht. Gott entzieht sich, der Christus wird zum Narr, das eigene Leben zum Schatten.
Wer bin ich dann noch, Gott, und wer bist du?
In diesem Augenblick habe ich die Wahl. Ich kann es dabei belassen.
Das Leben ist gescheitert, die Bilder zerbrochen, der Stein nutzlos.
Ich kann den Beruf wechseln – vielleicht wurde der unglückliche
Steinmetz dann Weber – die Beziehung, das Selbstbild, die Kirche,
natürlich auch die Religion. Ich kann mich fortan bekehren von
dem nutzlosen Versuch, etwas zu gestalten in meinem Leben. Ich kann
beschließen, dass es eben nicht Neues gibt unter der Sonne
und das es nicht lohnt, weiter zu suchen nach dem Sinn. Sarkastisch
verweise ich auf die ungezählten Brüche, die durch die
Gesellschaft gehen, durch die Kirche und die Kirchen, durch unsere
Werte und Hoffnungen – und richte mich ein im Fragment, das
ich fortan zu meiner Schutz- und Trutzburg erkläre.
An die Enge gewöhnt man sich. Vielleicht.
Nein, ich habe mich nie an diese Enge im Fragment gewöhnt und
werde es auch weiterhin nicht tun. Ich werde niemals aufhören, „das
Ganze“ zu wollen.
Nein ich will nicht weggehen, sondern bleiben bei diesem Stein dort
im Kidrontal, will die Geschichte weiterhören.
Inzwischen glüht der Stein in der Mittagssonne. Im Feuer geschmolzenes
Licht, Verwandlung der Erscheinungen. Wo hört die Materie auf
und wo beginnt die wirkende, formende, gestaltende Kraft Gottes, die
alles in allem erfüllt?
Und ich schaue hindurch und sehe wie Neues sich formt aus dieser „verworfenen“ Materie.
Sie wandelt sich, hier und überall auf der Welt, ein ewiges Formen
und Werden durchwaltet jeden Atemzug. Der Bruchstein wird zu Geröllstaub,
versinkt zu seinem Ursprung und wird neu erhoben ins erschaffene Sein
durch Wasser und Geist. Das Wiedererkennen wird zur Vision. Ja, genauso
müssen Bilder zerbrechen, damit das Leben selbst blühen kann.
Jesus Christus, unser Eckstein.
Ja, so hat er gelitten, der Gottmensch, so hat er sich entzogen und
wurde hinweggenommen und hindurch geboren durch den Tod ins Leben.
Was haben wir uns unterdessen für wunderbare Bilder von ihm gemacht,
als König, als Heiland, als „Gutmacher“. Als Krone
wollten wir ihn sehen – als Krone unserer eigenen, der menschengemachten
Schöpfung. Zierstein sollte er sein unserer selbstgemachten Kirchenbilder,
ein köstliches Diadem in unserer Hand.
Nicht er ist daran zerbrochen – sondern wir.
Der Weg zur Erkenntnis des Höchsten ist buchstäblich steinig
und auch das hat er uns gesagt: Wer auf diesen Stein fällt, wird
zerschellen, und auf wen er fällt, den wird er zermalmen (Mt 21).
Das haben wir übersehen. Das passte so gar nicht in unser Konzept
von dem verfügbaren Gott.
Ein Stein, nur nach eigenen Wünschen geformt, wird zerbrechen,
das ist keine Frage von Moral, sondern von Schöpfungsordnung.
Eine Menschheit, eine Gemeinschaft, eine Kirche, die sich ihren Gott
erschafft, wird sein Inbild zerstören und damit sich selbst.
Es geht um das Hinhören und das Aushalten von Verwandlung. Um
die Kunst Michelangelos, mit dem Stein zu verschmelzen – und
sei es im Feuer der Liebe und der Läuterung – anstatt ihn
beherrschen zu wollen.
Wir haben die Lesung aus dem Eph. Brief gehört. Während
wir noch bauen, regt sich das Leben. Wir werden selbst zusammengefügt
als lebendiger Bau, als heiliger Tempel, als Wohnung seiner Gegenwart,
in der Jesus Christus selbst atmet.
Lasst uns Ihn nicht einmauern in scheinbar unveränderliche Systeme
und Dogmen, in unsere unwiderruflichen Pläne und vermeintlich
endgültigenb Festlegungen dessen was richtig und falsch, was gültig
und ungültig sei.
Die Sonne wandert weiter, die Schatten werden länger im Kidrontal. Der Stein wird langsam kühler, sanft schmiegen sich seine Strukturen in meine Hände. Hat er meine Hände geformt? Oder haben meine Hände den Stein gezeichnet? Ich weiß es nicht. Aber Er selbst, der Ewige, ist in meiner Hand als Stein, als Brot, als Name eingeschrieben wie ich in Seine.
Jesus Christus. Eckstein, Schlussstein, Leben und Tod und Gott alles in allem. Lebendige Verbindung zwischen allen Kirchen und allen Menschen, die Ihn suchen. Leise ist er, still und unauffällig, und uns allen sehr ähnlich, aber vollkommen ganz in Seiner Gebrochenheit.
Es ist so einfach. ER ist tatsächlich ganz gegenwärtig.
In jedem Stein, in jedem Gesicht und jedem Namen, in jedem Atemzug,
in der die Kraft Gottes das Leben mit sich selbst verbindet und heilt.
Vielleicht erinnern wir uns daran, wenn wir Steine sehen – und
wo wäre das nicht?
17.09.2006, Sr Katharina Klara Schridde CCR